Achtsamkeit ist eine der wichtigsten Zukunftskompetenzen von Führung. Gleichzeitig wird sie in diesem Kontext immer wieder missverstanden. Wohlfühl-Tool ohne wirtschaftliche Relevanz, fehlende Leistungsorientierung oder Zeitverschwendung sind Beispiele gängiger Fehlinterpretationen. In diesem Artikel räume ich mit den häufigsten Missverständnissen rund um achtsame Führung auf.
„Achtsamkeit bedeutet, immer ruhig und gelassen zu sein.“
Achtsamkeit ist kein Zustand dauernder Entspannung. Es geht nicht darum, Gedanken und Gefühle zu unterdrücken oder stets „Zen“ zu wirken. Es geht darum, aufmerksam und präsent zu sein – auch bei Unsicherheit, in Konflikten oder bei Stress. Achtsame Führungskräfte nehmen bewusst ihre eigenen Gedanken und Gefühle wahr, bevor diese ihr Handeln unbewusst steuern. Auch sie kennen Druck, sind angespannt und frustriert, unsicher oder ängstlich. Das ist völlig normal. Entscheidend ist, wie sie damit umgehen.
Wer achtsam führt, versucht nicht, krampfhaft ruhig zu wirken, sondern aufmerksam und präsent zu sein. Das schließt auch eigene emotionale Reaktionen ein, die bei einer achtsamen Haltung allerdings der Situation angemessen sind und ohne unkontrollierte Impulsivität auskommen. Achtsamkeit heißt nicht, Gefühle zu filtern. Es ist eine Art innerer Steuerung, die das zulässt, was sich zeigt – und damit (selbst)bewusst umgeht. Wahrnehmen, ohne in einen reflexhaften Aktionismus zu verfallen. Weder ausweichen, noch eskalieren. Bewusstheit statt Fassade.
„Achtsamkeit ist eine Modeerscheinung und ein Wohlfühl-Tool.“
Achtsamkeit wird von Führungskräften häufig als Modeerscheinung abgetan. Ein weiteres Management-Buzzword, das schon bald vom nächsten abgelöst wird. Nach dieser Lesart ist Achtsamkeit vor allem ein Wohlfühl-Tool: Nett gemeint, aber ohne strategische Relevanz für Führung und Organisation. Diese Sicht greift zu kurz.
Achtsamkeit ist nicht nur ein weiterer Trend, sondern eine Antwort auf veränderte Rahmenbedingungen von Führung: Steigende Komplexität, permanente (technologische) Veränderungen, Anpassungsdruck, Informationsüberflutung und eine hohe emotionale Belastung erfordern Fähigkeiten, die klassische Führungsmodelle kaum trainieren. Stichworte sind hier zum Beispiel Selbstregulation, Konzentration und Fokus, mentale und emotionale Stärke oder Selbstmitgefühl in schwierigen Situationen.
Achtsamkeit stärkt grundlegende mentale Kompetenzen, die nicht an kurzfristige Managementmoden gebunden sind, sondern langfristig wirksam bleiben. Die Fähigkeit, etwa auch unter Druck präsent zu bleiben, eigene Reaktionen zu reflektieren und nicht reflexhaft zu handeln, ist keine Frage des Zeitgeistes. Es ist schon heute eine Schlüsselkompetenz von Führung.
Achtsamkeit ist somit kein kurzfristiger Hype. Sie ist eine Führungsfähigkeit in einer Welt, die dauerhaft komplex und volatil bleiben wird. Sie ist nicht nur ein Tool, sondern eine Haltung, die ständiger Übungspraxis bedarf.
„Achtsamkeit ist nur etwas für Esoteriker.“
Achtsamkeit haftet häufig noch ein gewisses esoterisches Image an. Sie sei deshalb im harten Geschäftsleben fehl am Platz, weltfremd oder schlicht nicht vereinbar mit unternehmerischer Verantwortung. Dieses Bild hält einer nüchternen Betrachtung nicht stand.
Um dir ein differenziertes Bild machen zu können, solltest du daher den Unterschied zwischen Achtsamkeit und Esoterik kennen. Nur weil Achtsamkeit ihre historischen Wurzeln in der buddhistischen Tradition hat, macht sie das noch lange nicht esoterisch. Oder würdest du behaupten wollen, Esoteriker*in zu sein, nur weil du Yoga machst, das ebenfalls eine Jahrtausende alte Praxis ist?
Achtsamkeit nimmt die Welt (das Leben) wahr als direkte, wertfreie Erfahrung. Esoterik hingegen nimmt die Welt über ein Konzept von der Welt wahr. Sie bezieht sich auf vermeintlich höhere Erkenntnisse und zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass bestimmte Lebenserfahrungen oder Erscheinungen des Lebens dementsprechend interpretiert werden. Esoterik weist also Bedeutungen zu und bewertet. Achtsamkeit tut dies nicht. Es ist eine Haltung, die „da sein” lässt, was da ist. Ohne zu analysieren, zu interpretieren, zu bewerten oder zu beurteilen.
Achtsame Führung zeigt sich konkret im Management-Alltag: im bewussten Umgang mit Stress, im klaren Setzen von Prioritäten, im Zuhören und Kommunizieren auf Augenhöhe, im respektvollen Umgang mit Kolleg*innen und im reflektierten Einsatz von der eigenen Führungsrolle. All das ist praktisch anwendbar – und für Führung hochrelevant.
„Achtsamkeit bedeutet, immer nett zu sein.“
Ein weit verbreitetes Missverständnis ist die Annahme, achtsame Führung bedeute vor allem Freundlichkeit, Harmonie und ein möglichst konfliktfreies Miteinander. Freundlichkeit gegenüber Mitarbeiter*innen und sich selbst ist ein wichtiger Aspekt von Achtsamkeit. Das bedeutet allerdings nicht, ständig zu lächeln oder gute Laune vorzugaukeln.
Eine achtsame Führungskraft pflegt auch kein kumpelhaftes Verhältnis zu Mitarbeiter*innen, sondern weiß, wo sie Grenzen zieht. Sie nimmt Spannungen, Leistungsdefizite, Fehlverhalten oder ungelöste Konflikte aufmerksam wahr und schaut nicht weg, um die vermeintlich positive Stimmung zu schützen. Im Gegenteil: Achtsame Führungskräfte sprechen Probleme bewusst an, bevor sie größer werden. Der Unterschied dabei liegt allerdings im Wie, nicht im Ob: respektvoll statt anklagend oder schuldzuweisend!
Freundlichkeit bezieht sich auf die eigene Haltung, wie jemand mit Kolleg*innen generell umgeht. Vor allem dann, wenn es nicht so gut läuft und Konflikte entstehen. Zu diesem Thema kannst du den Blogartikel „Die Kraft der wohlwollenden Haltung” lesen. Hierin beschreibe ich, was Wohlwollen in der Führung meint: Menschen – einschließlich sich selbst – mit einer Grundhaltung von Freundlichkeit, Verständnis und ehrlichem Interesse zu begegnen. Wohlwollen ist eben mehr als Nettigkeit. Es geht nicht darum, alles zu akzeptieren oder Konflikte zu vermeiden.
„Achtsamkeit ist gleich Meditation.“
Achtsamkeit und Meditation werden oft gleichgesetzt. Das ist so nicht richtig. Meditation ist „lediglich” ein Weg, quasi ein Mittel, um Achtsamkeit zu trainieren.
Was du wissen solltest: Achtsam zu sein ist etwas, zu dem wir alle auf natürliche Weise in der Lage sind. Wir sind in der Lage, voll präsent in der Gegenwart zu sein. Also wahrzunehmen und zu beobachten, was gerade geschieht – bei gleichzeitigem vollständigen Bewusstsein über diese Präsenz.
Die Realität sieht aber häufig so aus, dass wir uns von allem Möglichen ablenken lassen, mehrere Dinge gleichzeitig tun und so nie wirklich voll präsent, das heißt aufmerksam und konzentriert bei einer Sache sind. Um das zu trainieren, kannst du die sogenannte Achtsamkeitsmeditation nutzen. Das ist eine Meditationstechnik, bei der du deine Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen einfach nur beobachtest, ohne etwas damit zu tun – weder beurteilen, analysieren, vergleichen noch reagieren. Dabei nutzt du deinen Atem als Anker, indem du dich auf ihn konzentrierst und konzentriert dabei bleibst.
Wenn du als Führungskraft von einer höheren Aufmerksamkeit und Konzentration profitieren willst, ist es hilfreich, eine regelmäßige Praxis der Achtsamkeitsmeditation in deinen Alltag zu integrieren.
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„Achtsamkeit ist im Grunde ein Ego-Trip.“
Achtsamkeit wird häufig als etwas zutiefst Persönliches verstanden. Aus Praktiken wie Selbstbeobachtung oder Selbstreflexion entsteht schnell der Eindruck, achtsame Führung sei vor allem ein Ego-Projekt: gut für das eigene Stresslevel, aber ohne echte Relevanz für das Team oder die Organisation. Auch das ist eine Fehleinschätzung.
Achtsamkeit richtet zwar den Blick nach innen, aber nicht, um sich selbst zu optimieren, um noch leistungsfähiger oder immer noch besser zu werden, sondern um als Führungskraft das eigene Verhalten und Handeln in Beziehung zu anderen bewusster zu gestalten. Achtsamkeit in der Führung heißt deshalb gerade nicht, nur um sich selbst zu kreisen. Vielmehr geht es um Selbsterkenntnis sowie um persönliche Entwicklung und persönliches Wachstum. Letztlich um innere Reife.
Von den positiven Wirkungen einer achtsamen (Führungs-)Praxis profitierst nicht nur du als Führungskraft. Auch auf die Mitarbeiter*innen und auf das Klima in deiner Organisation an sich hat dies einen positiven Einfluss. Wenn du achtsam bist, reagierst du weniger automatisch, hörst anderen besser zu, kommunizierst wertschätzender, handelst bewusster und bist empathischer. Dies wiederum fördert deine Vertrauenswürdigkeit und schafft Sicherheit fürs Team, das sich gesehen und verstanden fühlt. Du siehst: Achtsamkeit ist alles andere, nur kein Ego-Trip.
„Achtsamkeit kostet zu viel Zeit.“
Eines der häufigsten Argumente gegen Achtsamkeit in der Führung lautet: „Dafür habe ich im Alltag keine Zeit.“ Was dabei mitschwingt, ist meist das Bild von langen Meditationssitzungen, zusätzlichen Terminen oder einem weiteren Punkt auf der To-do-Liste. Achtsamkeit wird als Mehraufwand verstanden, als Luxus in einem ohnehin übervollen Kalender.
Hinter dem Argument „Keine Zeit“ kann auch häufig ein Schutzmechanismus stecken. So etwa die Angst vor Kontrollverlust oder die eigene Überzeugung, nur bei Druck funktionieren zu können. Gerade weil Achtsamkeit dies in Frage stellt, wird sie oft als unbequem angesehen. Doch genau hier liegt das Missverständnis.
Achtsame Führung bedeutet nicht, mehr Zeit zu investieren, sondern die vorhandene Zeit bewusster zu nutzen. Sie verändert nicht, was Führungskräfte tun, sondern wie sie es tun. Zum Beispiel aufmerksamer zuhören, klarer kommunizieren oder bewusster entscheiden. Gerade Unachtsamkeit ist einer der größten Zeitfresser im Führungsalltag. Beispiele:
- Missverständnisse durch halbherziges Zuhören
- Unnötige Meetings aufgrund unklarer Erwartungen
- Eskalierende Konflikte, weil Gefühle nicht ernst genommen und ignoriert werden
- Korrekturschleifen durch vorschnelle Entscheidungen
Achtsamkeit kann diese Reibungsverluste reduzieren. In der Praxis zeigt sich achtsame Führung also nicht in zusätzlichen Zeitblöcken, sondern in kleinen Momenten:
- Ein bewusster Atemzug vor einem schwierigen Gespräch
- Kurzes Innehalten vor einer impulsiven E-Mail
- Echtes Zuhören in den ersten Sekunden eines Meetings
All das sind kleine Momente mit großer Wirkung.
„Achtsamkeit bedeutet, keine Leistung mehr zu fordern.“
Ein weiteres hartnäckiges Missverständnis lautet: Achtsamkeit und Leistungsorientierung schließen sich aus. Achtsame Führung wird dabei als nachgiebig, konfliktscheu oder „zu weich“ deklariert – als Haltung, bei der Ergebnisse zugunsten von Harmonie relativiert werden.
Achtsame Führung bedeutet aber nicht, weniger Leistung einzufordern, sondern eine realistischere und nachhaltigere Leistung zu ermöglichen. Sie richtet den Blick nicht nur auf kurzfristige Ergebnisse, sondern auch auf die Bedingungen, unter denen Leistung entsteht: mental, emotional und organisatorisch. Wer achtsam führt, schaut genauer hin: Wo entstehen Überforderung, Stress oder innere Kündigung? Wo werden Ressourcen verschwendet, weil Menschen nur noch funktionieren? Leistung wird nicht abgeschafft, sondern differenzierter verstanden.
Achtsame Führungskräfte scheuen sich nicht vor klaren Erwartungen oder anspruchsvollen Zielen. Im Gegenteil: Gerade weil sie präsenter sind, kommunizieren sie klarer, setzen Prioritäten bewusster und sprechen Probleme früher an. Das erhöht letztlich die Verbindlichkeit.
„Achtsamkeit lässt sich nicht messen.“
Ein weiteres weit verbreitetes Argument lautet: „Achtsame Führung klingt zwar gut, aber wie soll man das eigentlich messen?“ Mittlerweile zeigen wissenschaftliche Studien die positiven Effekte achtsamer Führung sowohl im individuellen Verhalten der Führungskraft als auch in den Ergebnissen von Teams beziehungsweise Unternehmen.
So konnten Forscher*innen der Universität in Islamabad und der Prince Mohammad Bin Fahd University in Saudi Arabien in einer Studie mit 230 klinischen Pflegekräften in verschiedenen Institutionen der Gesundheitsversorgung belegen: Es gibt einen signifikanten Zusammenhang zwischen der Achtsamkeit von Führungskräften und der Arbeitsleistung der Mitarbeiter*innen. Das heißt: Je höher die Achtsamkeit der Führungskraft, desto besser schneiden Mitarbeiter*innen in objektiven Leistungsmetriken ab.
Wissenschaftler*innen der Indiana Wesleyan University konnten klare Zusammenhänge zwischen der Achtsamkeit von Führungspersonen und dem Wohlbefinden, Engagement und der Zufriedenheit von Mitarbeiter*innen identifizieren. Gemessen wurden die Zusammenhänge über etablierte psychometrische Skalen wie Mitarbeiterumfragen oder Stress- und Burnout-Indikatoren.
Zudem zeigt eine empirische Studie des chinesischen Harbin Institute of Technology, dass Mitarbeiter*innen unter achtsamen Führungskräften ein besseres Verhalten am Arbeitsplatz zeigen. Dazu zählen etwa höhere Kreativität, mehr Motivation und ein höheres Engagement. Auch dies kann mit statistischen Verfahren nachgewiesen werden. Ein Hinweis darauf, dass Achtsamkeit kognitive und soziale Prozesse positiv beeinflusst, die sich quantitativ messen lassen.
Fazit
Achtsame Führung wird oft mit Nettsein, Selbstoptimierung oder als nicht kompatibel mit Leistung verwechselt. In Wirklichkeit ist sie eine Form bewusster, klarer und verantwortungsvoller Führung. Das bedeutet, auch unter Druck handlungsfähig zu bleiben, klar zu kommunizieren und Entscheidungen bewusster zu treffen. Ihre Wirkung zeigt sich konkret in einer besseren Zusammenarbeit, motivierten, engagierten, kreativen und zufriedenen Mitarbeiter*innen.
Wer achtsame Führung auf die erwähnten Missverständnisse reduziert, übersieht ihr eigentliches Potenzial. Das Potenzial, Führungskräfte in einer anspruchsvollen und komplexen Realität mental und emotional zu unterstützen. Insofern ist achtsame Führung kein Extra beziehungsweise „nice to have”. Sie ist eine Schlüsselkompetenz für die Führung von heute und morgen.
