Achtsame Führung ist weder eine reine Führungstechnik noch ein isolierter Führungsstil. Dabei geht es vielmehr um eine besondere innere Haltung – die Haltung einer Führungskraft zu sich selbst. Im ersten Teil der Artikelserie zu achtsamer Führung beleuchte ich, warum achtsame Führung mit Selbstbewusstheit beginnt.
„Wenn Ihre Handlungen andere dazu inspirieren, mehr zu träumen, mehr zu lernen, mehr zu tun und mehr zu werden, sind Sie eine Führungskraft.“
John Quincy Adams
In vielen Unternehmen wird Achtsamkeit mittlerweile als ein bestimmtes Tool verstanden. Als ein Instrument, um zum Beispiel die Konzentration, Motivation, Produktivität oder Resilienz zu steigern. Es stimmt, dass Achtsamkeit diese Dinge bewirken kann, aber nur – und damit komme ich gleich zu Beginn zum entscheidenden Punkt – auf lange Sicht. Um Achtsamkeit und das, worin sie sich im Führungsalltag konkretisiert, zu lernen, reicht keine Trainings- oder Fortbildungseinheit.
Wer achtsam sein will, muss bereit sein, seine liebgewonnenen Gewohnheiten zu hinterfragen und zu ändern. Dafür braucht es Zeit und Übung. Man wird nicht „mal eben schnell“ achtsam. Deshalb löse ich den Begriff „achtsame Führung“ gleich an dieser Stelle aus dem gedanklichen Korsett einer weiteren Anforderung, die es – möglichst schnell und effizient – zu erfüllen gilt.
Achtsamkeit entfaltet ihre eigentliche Wirkung erst dann, wenn sie zur inneren Haltung wird. Sie ist somit nicht bloß eine weitere Technik im Werkzeugkasten von Führung, sondern legt das Fundament dafür, dass Führung nachhaltig gelingt.
Diese innere Haltung ist der Kern, aus dem sich Selbstbewusstheit speist. Selbstbewusstheit meint die Fähigkeit, sich selbst offen und mutig zuzuwenden und sich aufmerksam wahrzunehmen. Sich also seiner „selbst bewusst“ zu werden.
Achtsame Führung bedeutet die Konfrontation mit sich selbst
Viele Führungskräfte richten den Blick verständlicherweise nach außen: auf Ziele und Ergebnisse. Achtsamkeit hingegen lädt dazu ein, den Blick nach innen zu richten – nicht, um sich von der Außenwelt abzuwenden, sondern um ihr bewusster zu begegnen.
Achtsam führen kann nur, wer die Konfrontation mit sich selbst nicht scheut. Wer sich schwertut, sich selbst wahrzunehmen und das anzuerkennen, was sich dabei gerade zeigt, tut sich damit auch gegenüber Mitarbeiter*innen schwer und ist kaum in der Lage, empathisch zu reagieren. Eine solche Führungskraft wird nicht erkennen können, wie es Mitarbeiter*innen mit einer bestimmten Aufgabe oder in einem Projekt geht. Dies ist aber die Voraussetzung dafür, dass Mitarbeiter*innen sich ernst genommen fühlen und Vertrauen und Loyalität entwickeln.
Die innere Haltung beschreibt die grundlegende Art und Weise, wie jemand anderen Menschen und sich selbst begegnet. Man könnte sagen:
Haltung ist das, was bleibt, wenn man alle Methoden weglässt.
Eine auf Achtsamkeit beruhende innere Haltung ist gekennzeichnet durch Bewusstheit. Bewusstheit ist die Fähigkeit, Situationen, Menschen und sich selbst mit klarem Verstand wahrzunehmen – und das ohne eine vorschnelle Bewertung beziehungsweise Beurteilung. Bewusstheit ermöglicht zum Beispiel, Entscheidungen nicht reflexhaft zu treffen, sondern mit klarem Blick für das Ganze.
Sein Reiz-Reaktionsmuster durchbrechen
Bewusst bedeutet, sich zum Beispiel über die eigenen Reaktionen im Klaren zu werden. Die meisten Menschen reagieren in einer Art Autopilot, ohne dass sie sich dessen bewusst sind: Taucht ein bestimmter äußerer Reiz (Trigger) auf, erfolgt eine bestimmte Reaktion. Die Wurzeln dieser Reaktionen liegen im eigenen erworbenen Verhaltensrepertoire und der individuellen Prägung, die sich durch Erfahrungen im Laufe der Zeit gebildet haben. Der Reiz ist also eine Art Hinweis, der uns an gemachte Erfahrungen erinnert – und entsprechend reagieren wir.
Bewusstheit kann dieses Muster durchbrechen. Sie ist das Gegenteil des Autopiloten. Bewusstheit schafft den Raum zwischen einem (Hinweis-)Reiz (Trigger) und der darauf folgenden Reaktion – zwischen dem, was geschieht, und dem, was man daraus macht. Führungskräfte, die sich ihrer individuellen Reiz-Reaktionsmuster bewusst werden, können diese auch hinterfragen und verändern:
- Wie reagiere ich in einer bestimmten Situation?
- Welche Gedanken und Gefühle tauchen dabei auf?
- Entsprechen diese Gedanken der Realität?
- Könnte es auch anders sein?
- Wenn es anders ist: Wie kann ich stattdessen reagieren?
Drei Dimensionen von Selbstbewusstheit
1. Bewusstheit in Bezug auf sich selbst ist die Tendenz zu hoher oder niedriger Selbstaufmerksamkeit. Ob eine Führungskraft in der Lage ist, sich, das heißt, ihre Gedanken, Gefühle und körperlichen Signale im gegenwärtigen Moment zu registrieren. Oder ob sie unbewusst darüber hinweggeht, es nicht ernst nimmt oder es sogar verdrängt.
Fragen, die helfen, um sich selbst bewusst zu werden, können sein:
- Was denke ich in einer bestimmten Situation?
- Was denke ich über Andere (Kolleg*innen, Mitarbeiter*innen, Vorgesetzte)?
- Was denke ich über mich selbst?
Das Gleiche gilt für Gefühle und Körperempfindungen. Zu bemerken, wann etwa Ungeduld, Ärger, Wut, Traurigkeit oder Anspannung und Stress auftauchen:
- Wie geht es mir in einer bestimmten Situation?
- Wann fühle ich mich wohl oder unwohl?
- Wo nehme ich Anspannung und Stress im Körper wahr?
Um sich also als Führungskraft im aktuellen Moment seiner selbst bewusst zu werden, braucht es ein Innehalten. Ein Loslassen von gewohnten, automatischen Denk-, Verhaltens- und Reaktionsmustern.
2. Bewusstheit kann sich auch auf Situationen und deren innewohnender Dynamik beziehen. Dabei handelt es sich um ein nicht wertendes Erfassen einer Situation, und das mit klarem Verstand. Situationsbedingte Bewusstheit heißt, die äußere Situation, wie sie nun mal gerade ist, bewusst und klar wahrzunehmen und zu akzeptieren.
Gleichzeitig nehmen achtsame Führungskräfte wahr, was dabei in ihnen selbst vorgeht. Diese Haltung ermöglicht bewusstes Handeln statt automatischer Reaktionen. Zum Beispiel:
- Was ist gerade wirklich wichtig?
- Welche Informationen fehlen noch?
- Was ist wesentlich, was nicht?
Gerade in komplexen und herausfordernden Kontexten ist situationsbedingte Bewusstheit hilfreich. Eine Führungskraft, die über diese Fähigkeit verfügt, ist gelassener und bleibt auch dann handlungsfähig, wenn es herausfordernd oder hektisch wird. Ihre Entscheidungen sind reflektierter, besonnener und situativ passender, weil sie auf bewusster Wahrnehmung beruhen statt auf Druck und Stress.
Führungskräfte mit dieser Fähigkeit können auch eher Vorbilder sein, da sie Ruhe und Orientierung ausstrahlen und dadurch stabilisierend auf ihr Umfeld wirken.
3. Ein dritter Aspekt von achtsamer Führung ist die Bewusstheit in zwischenmenschlichen Beziehungen. Sich selbst bewusste Führungskräfte verfügen über ein Gespür dafür…
…wie das eigene Verhalten und Handeln auf andere in der Organisation wirkt.
…welche Stimmungen und/oder Spannungen im Team gerade präsent sind.
…wann sich Mitarbeiter*innen wohl oder unwohl fühlen.
…wann Konflikte im Team drohen.
…welche Machtstrukturen und -dynamiken es im Team gibt.
Selbstbewusstheit in zwischenmenschlichen Beziehungen erzeugt eine Atmosphäre von Verlässlichkeit, Authentizität und Vertrauen: Mitarbeiter*innen fühlen sich gesehen, weil die Führungskraft wirklich „da” ist. Kommunikation wird ehrlicher, weil weniger unbewusste Emotionen mitschwingen. Konflikte verlaufen konstruktiver, weil Reaktionen nicht im Autopilot erfolgen. Selbstbewusstheit führt letztlich zu mehr Klarheit in Beziehungen, macht Führungskräfte nahbarer und Führung menschlicher.
Führung ohne Bewusstheit bleibt reaktiv
Führung ohne Bewusstheit reagiert lediglich auf Situationen, auf Anforderungen, Druck und Stress. Eine unbewusste Führungskraft handelt überwiegend aus Gewohnheit, aufgrund ihrer automatischen Reiz-Reaktionsmuster. Ihre Aufmerksamkeit liegt meist im Außen – auf Aufgaben und Ziele. Das Innere bleibt unbeachtet. Dadurch sind unbewusste Führungskräfte häufig angespannt, getrieben und erschöpft.
Achtsame Führung hingegen meint Präsenz. Die Aufmerksamkeit ist voll und ganz auf den gegenwärtigen Moment gerichtet. Eine achtsame Führungskraft nimmt zunächst einmal aufmerksam wahr, was vor sich geht. Mit klarem Verstand. Im Außen und – mindestens genauso bedeutsam – auch im Innen, bei sich selbst. So wird Selbstbewusstheit die Basis einer achtsamen Führung.
