Analoges Gehen und Wandern sind die Antithese zu Eiligkeit und digitaler Schnelligkeit. Scheinbar anachronistisch, aber mitunter beglückend. Eine Einladung zum achtsamen „Gehdanken“-Spaziergang.
Ein Gastartikel vom Zeitforscher, Trainer und Coach Franz J. Schweifer
Achtsamkeit ist gleichsam Hautkontakt mit der Gegenwart, fernab flüchtiger, eiliger Oberflächlichkeit. Wo auch immer wir uns auf unserem Weg gerade befinden, achten wir darauf, den gewohnten Lebenslauf zum ungewöhnlichen Lebensgang zu kultivieren. Denn unsere Lebenszeit ist zu wertvoll, um sie unachtsam am Wegrand liegenzulassen.
Schon der junge Jean-Jacques Rousseau erklärte das Gehen gewissermaßen zur Königsdisziplin der Zufriedenheit. Und der französische Soziologe David Le Breton pflichtet ihm in seinem 2015 erschienenen „Lob des Gehens“ bei:
„Das Gehen ist Öffnung zur Welt. Es versetzt den Menschen zurück in das glückselige Gefühl seiner Existenz. Es lässt ihn in eine aktive Form der Meditation eintauchen und bedarf all seiner Sinne. Manchmal kehrt man verändert zurück, eher geneigt, die Zeit zu genießen, als sich den maßgebenden Dringlichkeiten unseres zeitgenössischen Daseins zu unterwerfen.“
Gehen und Wandern erzeugen Resonanz
Sich auf den Weg zu machen oder am (Geh-)Weg zu sein macht etwas mit uns, erzeugt Resonanz. Wir begegnen dabei nicht nur anderen, sondern vor allem auch uns selbst. Das Gehen wird so zum „Gehspräch“, zum Selbst-Ge(h)spräch. Im (In-sich-)Gehen werden Gedanken zu besonderen „Gehdanken“ und Geschichten zu besonderen „Gehschichten“. Solche, die uns beflügeln und bewegen, aber auch näher zu uns selbst bringen können. Denn es kommt anders, wenn man denkt. Und es geht anders, wenn man geht. Etwas, das wir „übergehen“, meldet sich wieder, kommt zurück, will „begangen“ und beachtet sein.
Wandern ist die Sehnsucht nach Heimat und Heimkehr
Einer, der in diesem Zusammenhang noch ganz andere Dimensionen angesprochen hat, war der Früh-Romantiker und Philosoph Novalis (eigentlich Georg Philipp Friedrich von Hardenberg, 1772 bis 1801): „Wo geh´n wir denn hin? Immer nach Hause.“
Ein fundamentaler wie famoser Gedanke. Denn er berührt und inspiriert eine menschliche Ur-Sehnsucht. Etwa jene nach Heimat und Heimkehr nach einer mehr oder weniger langen (Lebens-)Wanderung oder Reise. Im wörtlichen und metaphorischen Sinne. Zuweilen ist zwar zweifelhaft, ob wir jemals dort ankommen, wo wir hin wollen. Aber es ist ein Glück, die Sehnsucht am Leben zu halten.
Heimat und ein Zuhause lassen sich ja nicht nur im Äußeren, Materiellen verorten. Sie liegen wohl auch im Emotionalen, im Inneren von uns – als innere Heimat. Oder im Transzendenten, Immateriellen. Ebenso wie ein Gehen oder Wandern nicht nur die körperlicher Ebene, sondern gleichzeitig auch die geistig-seelische, emotionale berührt.
„Die Seele braucht Zeit, sonst schrumpft sie“
Zeit und die Auseinandersetzung mit philosophischen Fragen war schon immer etwas, das mich außerordentlich faszinierte. Vielleicht liegt es an meiner Herkunft, zumal das Waldviertel im nordöstlichen Teil Österreichs den Nimbus des Mystischen, Verborgenen, Tiefgründigen hat. Es ist auch eine „langsame“ Landschaft. Eine, die dazu angetan ist, nicht hastig in die Länge oder Breite zu leben, sondern eher behutsam in die Tiefe.
Irgendwie scheint mich das geprägt zu haben. Auch eine gewisse Form der Bedächtigkeit, die keineswegs mit Faulheit zu verwechseln ist. Im Gegenteil. Es hat vielmehr mit Achtsamkeit und Wachheit zu tun. Und mit Hingabe. Aber auch mit Dankbarkeit für eine Ur-Heimat, die mir zauberhafte Zeiten geschenkt hat. So wandte ich mich schon als Kind an die gleichsam „zeitmächtigen“ Eltern, sie mögen doch umgehend die Uhr anhalten, damit endlich die Zeit stehen bliebe und ich mehr von ihr hätte.
Die Sehnsucht nach mehr Zeit – und der Möglichkeit, sie anzuhalten, stillstehen zu lassen – ist geblieben. Wohl auch deshalb, weil sich in dieser stillen, stillstehenden Zeit so köstlich und ergiebig flanieren ließe. Unberührt vom allerorts grassierenden „Eiligtum“, das die westliche Tempokultur zum Heiligtum erhoben hat. Mit der Konsequenz, dass ihr die Zeit immer eiliger davonzulaufen droht. Deshalb lautet mehr denn je meine Maxime: „Die Seele braucht Zeit, sonst schrumpft sie.“
Publikationen des Autors
Der Autor
Dr. Franz J. Schweifer ist Mitinhaber und Geschäftsführer des Beratungsinstituts „Die ManagementOASE – Schweifer & Partner, Coaching. Training. Consulting.“ in Mödling bei Wien. Als Temposoph, Zeitforscher, FH-Lektor, Managementtrainer und Coach mit über 25 Jahren Beratungserfahrung hat er ein Faible für ZEIT-spezifische Themen und Widersprüche auf gesellschaftlicher, unternehmerischer und persönlicher Ebene.