Oft sind es gerade die vermeintlich unbedeutenden Momente oder Erlebnisse, für die wir dankbar sein können. Eine persönliche Geschichte über eine zwischenmenschliche Begegnung und das große Glück in kleinen Dingen.
Es gibt Begegnungen, die zaubern dir ein sanftes Lächeln ins Gesicht. Wie von selbst. Ohne ein Zutun. Einfach so. Dieses Lächeln taucht auch später immer wieder auf, wenn du an diese Begegnung zurückdenkst. Dies ist eine persönliche Geschichte über eine solche Begegnung und über das große Glück in kleinen Dingen. Ich möchte sie gerne mit dir teilen.
Eines Morgens auf dem Weg zur Arbeit entdeckte ich in der Buchhandlung des örtlichen Bahnhofs das Büchlein „Ikigai – Die japanische Lebenskunst“ des japanischen Autors und Neurowissenschaftlers Ken Mogi. Darin erläutert er, was sich hinter diesem Begriff verbirgt: Ein tief im japanischen Alltag verwurzeltes Prinzip, das so viel bedeutet wie „das, wofür es sich zu leben lohnt“. „iki“ steht dabei für „Leben“, während „gai“ übersetzt „Wert“ bedeutet.
Ikigai: Die japanische Lebenskunst
Ikigai hat sehr viel mit Achtsamkeit zu tun, weshalb ich nicht lange zögerte und das Büchlein kaufte. Ich las es abwechselnd zu Hause oder in der Bahn. Ohne mich bisher intensiver mit Ikigai auseinandergesetzt zu haben, war ich sofort fasziniert von dieser Lebenskunst. Mit Ikigai kann jeder und jede herausfinden, welcher ganz persönliche Grund es lohnenswert macht, jeden Morgen aufzustehen und einen neuen Tag zu beginnen. Diesen individuellen Sinn des Lebens herauszufinden soll der Schlüssel zu einem langen, erfüllten Leben sein. Vielleicht weißt du, dass Menschen in Japan mit einer Lebenserwartung von im Schnitt rund 85 Jahren (Stand 2022) weltweit am längsten leben.
Ken Mogi hat Ikigai als Erster wissenschaftlich betrachtet. Er zeigt, wie es wirkt und warum es glücklich und gesund macht. Dafür führt er auch viele konkrete Beispiele aus dem japanischen Alltag an.
Ikigai als Grundhaltung besteht aus fünf Säulen:
- Klein anfangen
- Loslassen lernen
- Harmonie und Nachhaltigkeit leben
- Die Freude an kleinen Dingen entdecken
- Im Hier und Jetzt sein
Die Strahlkraft der Hingabe zu einer Tätigkeit
Ein paar Tage später nach dem Kauf des Buchs war ich nach Feierabend in der Stadt unterwegs und wollte Vorratsgläser aus Glas mit Schraubdeckel kaufen, um die Zutaten für mein geliebtes Porridge sauber und ordentlich aufbewahren zu können. Du musst wissen, dass ich bei so etwas eine ziemlich „ordentliche“ Persönlichkeit bin (zwinker). Nach einem vergeblichen Versuch in einem Drogeriemarkt ging ich in ein größeres Kaufhaus und versuchte dort mein Glück. Ich hatte die passende Abteilung gerade betreten, sprach mich auch schon eine Verkäuferin an. „Kann ich etwas für Sie tun?“ Sie war von zierlicher Statur, ihre Ansprache bestimmt, aber trotzdem höflich, und auf eine gewisse Weise zurückhaltend. Ich trat auf sie zu und bemerkte, dass sie Asiatin war. „Möglicherweise können Sie das, ja“, erwiderte ich. Ich erklärte ihr, dass ich auf der Suche nach Vorratsgläsern mit Schraubdeckel bin. „Das tut mir sehr leid, die haben wir leider nicht. Nur diese hier, aber die sind eher für Marmelade. Ansonsten nur Weck-Gläser.“
Ich signalisierte, dass Weck-Gläser für mich nicht in Frage kommen. „Warten Sie! Vielleicht dort hinten? Nein, ausgerechnet solche einfachen Gläser haben wir nicht. Es tut mir wirklich sehr leid“, meinte sie schon beinahe mitfühlend. Dieses Verhalten machte sie auf irgendeine Art sympathisch. Ja, ich genoss dieses kurze Zwiegespräch, in dem sich spontan und ungezwungen eine gewisse humorige Resonanz zwischen uns entwickelte. „Sie haben wohl nur die komplizierten Dinge“, witzelte ich und entlockte ihr damit ein kurzes Lachen. Schließlich sah ich ein, auch hier kein Glück zu haben, bedankte mich für ihre freundliche Art und machte kehrt Richtung Rolltreppe.
„Danke für Ihren Kommentar“, rief sie mir noch hinterher. Mein Kommentar? Noch nie hatte sich jemand für einen witzigen Kommentar mit leicht ironischem Unterton bei mir bedankt. Diese Frau schon. Ihr Verhalten, ihr Auftreten, ja, ihre ganze Haltung war ganz anders als das, was ich von den üblichen Verkaufsgesprächen kenne. Ihre persönliche Art tat mir irgendwie gut.
Ein intensiver Moment des Glücks
Ich war schon ein paar Schritte Richtung Rolltreppe gegangen, als mir ein Gedanke durch den Kopf schoss: Diese Höflichkeit, diese Aufmerksamkeit, die asiatischen Gesichtszüge. Sie musste Japanerin sein! Ich drehte mich um und ging noch einmal auf sie zu. „Kommen Sie aus Japan?“, fragte ich. „Ja, ich bin waschechte Japanerin“, erwiderte sie auf ziemlich deutsche Art und Weise, aber mit unverkennbarem Akzent. Wie schön! Vor mir stand ein Mensch, der seinen Job mit Hingabe macht. Der offenbar liebt, was er tut, und das auch ausstrahlt. Der sich für das Nicht-Vorhandensein der gewünschten Ware fast schon entschuldigt, als sei er selbst der Kaufhausbesitzer. Der selbst in einem simplen Verkaufsgespräch eine gewisse Harmonie erzeugt, wie man sie sonst nur sehr selten erlebt.
Da ich nicht an Zufälle im Leben glaube, sprudelte es aus mir heraus: „Ich lese gerade ein Buch über Ikigai.“ „Ikigai“? Offenbar verstand sie mich nicht richtig. Oder hatte ich den Begriff falsch ausgesprochen? „Ikigai, die japanische Haltung zum Leben. Sie hat viel mit Achtsamkeit zu tun und das habe ich an Ihrem sehr angenehmen Verhalten gemerkt“, meinte ich. „Achtsamkeit“, wiederholte sie, lachte abermals herzlich und nickte zustimmend. Offensichtlich hatte sie verstanden, worauf ich hinaus wollte. Sie bedankte sich mit einer leichten Verbeugung.
Es bedurfte keiner weiteren Worte. Als ich auf der Rolltreppe nach oben in Richtung Ausgang fuhr, spürte ich einen intensiven Moment des Glücks. Ich musste lächeln. Ein Lächeln, das wie von selbst auftauchte. Ohne ein Zutun. Einfach so.
Die Freude an kleinen Dingen entdecken und dafür dankbar sein
Weiter oben habe ich die fünf Säulen der Grundhaltung von Ikigai beschrieben. Eine davon lautet: Die Freude an den kleinen Dingen im Leben entdecken. Diese Freude schließt Dankbarkeit mit ein. Dankbar sein für das, was dir das Leben schenkt. Jeden Tag. Dazu zählen auch die vielen Dinge, wie wir für selbstverständlich erachten: Zum Beispiel ein Dach über dem Kopf, genug zu Essen, warme Kleidung an kalten Tagen, Freunde, zwischenmenschliche Beziehungen generell. Und viele Dinge mehr, die du vielleicht gar nicht (mehr) bewusst wahrnimmst und wertschätzt. In einem anderen Blogbeitrag habe ich mich mit dem Thema „Wie du Dankbarkeit beim Wandern üben kannst“ auseinandergesetzt.
Die Begegnung mit der japanischen Verkäuferin war für mich ein kleiner, aber dennoch bedeutender Moment. Ich nenne solche Momente gerne auch „großartige Kleinigkeiten“. Mit dem Wortspiel möchte ich ausdrücken, dass es Dinge gibt, deren wertvolle Bedeutung wir für unser Leben oft übersehen. Sie fallen uns in der Hektik des Alltags gar nicht mehr auf, also nehmen wir sie irgendwie als gegeben hin. Andererseits sind wir von Kindesbeinen an auf die großen Dinge im Leben konditioniert, sei es materieller Reichtum, Status oder Macht. Dann denken wir, dass wir genau auf diese Dinge in unserem Leben hinarbeiten müssen. Falsch ist daran zunächst nichts. Nur wenn wir einseitig unseren Fokus darauf richten, nehmen wir irgendwann nicht mehr wahr, wie viel Wunderbares uns das Leben jeden Tag in Form solcher „großartigen Kleinigkeiten“ schenkt.
Kurz nach der Begegnung mit der japanischen Verkäuferin überkam mich eine große Freude. Ich fühlte Dankbarkeit und stellte wiederholt fest, dass mir solche Begegnungen unheimlich viel Kraft geben. Die zwischenmenschliche Resonanz, die dabei entsteht, erlebt man nicht häufig. Genau das macht diese Begegnungen so bedeutsam und wertvoll. Eine wunderbare Erfahrung, für die es sich zu leben lohnt.