Einen Weg, auf dem du schon gewandert bist, kannst du mit Neugier immer wieder neu entdecken. In der Achtsamkeit heißt diese Haltung Anfängergeist. Er hilft dir, gewohnte Denkmuster zu verändern und aus deiner Komfortzone zu kommen.
Es gibt Menschen, die verreisen niemals zwei Mal in ein und dasselbe Land. Sie besuchen niemals ein und dieselbe Stadt, und sie wandern niemals in einem Gebirge, in dem sie schon einmal gewandert sind. Bricht man das noch weiter herunter, so unternehmen sie selbstverständlich keine Wanderung auf ein und demselben Wanderweg zwei Mal oder sogar mehrmals. Selbst dann, wenn die Wanderung als großartig empfunden wurde.
Dieser Haltung liegen bestimmte Denkmuster zugrunde. Vielleicht ist es Angst, an anderer Stelle etwas zu verpassen. Vielleicht Angst, Zeit für etwas zu vergeuden, die andernorts auf einer noch reizvolleren Wanderung viel besser eingesetzt werden könnte. Und schließlich: Man lebt ja nur ein Mal, also muss man doch, bitteschön, so viel wie möglich sehen von diesem Planeten. Wiederholung ist dann etwas für Unflexible, für schwermütige Nostalgiker, die das Schöne, was sie erlebt haben, unbedingt noch einmal erleben möchten. Alles, was nicht neu ist, kann doch nichts Anderes sein als langweilig, da es schon einmal erlebt, schon einmal gesehen wurde.
Vertrautes in neuem Licht: Der Anfängergeist in der Achtsamkeit
Es spricht selbstverständlich überhaupt nichts dagegen, möglichst viele unterschiedliche Orte, Berge und Landschaften zu erwandern. So etwas weitet den persönlichen Horizont. Wer viel von der Welt gesehen hat, hat auch viel zu erzählen. Es prägt die eigene Persönlichkeit. Negativ formuliert würde einem etwas entgehen, führe man wiederholt an den gleichen Ort, verreiste man wiederholt ins gleiche Land, bestiege wiederholt einen bestimmten Berg oder wanderte zum wiederholten Mal auf ein und demselben Wanderweg. Oder? Was wäre, wenn das alles nur Einbildung wäre? Was, wenn unser Denken uns diesbezüglich einengt, weil wir meinen, diese gewohnten und vertrauten Orte, Landschaften, Berge, Wanderwege schon so gut zu kennen, dass uns beim Besuch derer nun rein gar nichts mehr überraschen könnte? Hier kommt ein sehr interessanter Aspekt der Achtsamkeit ins Spiel – der Aspekt „Anfängergeist“. Dazu schreibt Gill Hasson in ihrem Buch „Achtsamkeit – Wie Sie Ihre Gedanken schwei(f)gen lassen“:
„Anstatt auf Ereignisse immer wieder auf dieselbe Weise – wie schon in der Vergangenheit – zu reagieren, betrachten wir sie stets in neuem Licht. Wir lösen uns von unseren Überzeugungen und den Schlussfolgerungen, die wir bei früheren ähnlichen Gelegenheiten gezogen haben, und öffnen uns neuen Möglichkeiten, selbst in wohlvertrauten Situationen. Wir achten bewusst auf kleine Veränderungen, die das jetzige Geschehen vom Vergangenen unterscheiden. Die Wahrnehmung des Neuen versetzt uns ins Hier und Jetzt, weil wir bewusster werden für das, was gerade jetzt geschieht.“
Dieser Absatz beinhaltet Fantastisches. Es geht um nichts Geringeres als um einen Weg, wie du dein eigenes Denken in ähnlichen Situationen, die du immer wieder erlebst, verändern kannst. Der Schlüssel dazu ist, diese Situation, dieses Erleben, immer wieder als etwas Neues zu betrachten. Nichts ist heute so wie gestern, und nichts wird morgen so sein wie heute. Übersetzt auf eine Wanderung auf ein und dem gleichen Weg heißt das: Dieser Weg, die ihn umgebende Natur, die Berge, die Wälder und Wiesen, die Geräusche, die Klänge in der Luft, die Gerüche – nichts von alledem ist immer gleich. Es kommt einzig und allein auf dein Denken an. Darauf, wie du darüber denkst. Wenn du denkst, ein und dieselbe Wanderung mehrmals zu machen ist langweilig, dann wird sie auch langweilig sein. Wenn du aber versuchst, diese Wanderung jedes Mal als etwas Neues, Besonderes, noch nie Dagewesenes zu betrachten, wird sich das monotone Gefühl der Langeweile gar nicht erst einstellen.
Wir selbst geben Dingen eine Wertung – und finden das dann gut oder schlecht
Dazu ein kleiner Exkurs: Mir ging es genau so, als ich vier Monate lang auf Sardinien als Wander-Guide arbeitete und jede Woche mehr oder weniger die gleichen Wanderungen mit den Gästen unternahm. Jede Woche konnte ich feststellen, wie sich die Vegetation am Wegesrand vom Frühjahr über den Hochsommer bis in den Spätsommer hinein veränderte. Wenn auch in kleinen Schritten, aber sie veränderte sich. Irgendwann fielen mir auch die kleinsten Details auf – es war also jedes Mal eine andere, eine neue Situation. Gerade wenn das Wetter wechselte und wir auch mal im Regen wanderten, war die Landschaft plötzlich eine ganz andere. Andere Farben, andere, intensivere Gerüche der Blumen und Kräuter. Ich konnte vier Monate lang üben, wie es ist, sich jedes Mal neu auf eine Wanderung einzulassen. Und ich entdeckte fast immer Neues. Gerade an Regentagen konnte ich feststellen, dass einige Gäste ihr Erleben des Wandertags vom Wetter abhängig machten. „Es kann nur ein schöner Wandertag sein, wenn die Sonne lacht“, so ihre Haltung. Entsprechend negativ dachten sie über die Verbindung von Wandern und Regen.
Damit du mich nicht falsch verstehst: Mir geht es nicht darum zu sagen, du solltest eine Wanderung, die du schon einmal gemacht hast, unbedingt mehrmals machen. Wenn es regnet und du keine Lust hast rauszugehen, dann lass es bleiben! Wenn du lieber woanders wandern möchtest, dann tu das! Es geht mir darum zu zeigen, dass es immer du selbst bist, der Dingen und Situationen eine Wertung gibt – und diese damit in einem bestimmten Licht erscheinen lässt. Letztlich geht es ums Aufbrechen von Denkroutinen, darum, dein Denken zu verändern. Offener und freier für Neues zu werden, ausgetretene Pfade zu verlassen. Eine Wanderung auf einem Weg, den du schon einmal gegangen bist, kann dafür eine gute Übung sein.
Stelle dir also vor, du gehst einen dir bekannten Wanderweg noch einmal. Dieses Mal aber versuchst du, irgendetwas Neues an diesem Wanderweg zu sehen. Alles, was du dafür brauchst, ist eine große Portion Neugier und Naivität. Eine Art kindliche Naivität, die dadurch gekennzeichnet ist, dass ein kleines Kind absolut nichts um sich herum wertet, sondern einfach nur im Hier und Jetzt ist. Da ist, völlig versunken. Ich wette, du wirst Einiges auf deinem Weg entdecken, was du so zuvor noch nicht gesehen und wahrgenommen hast. Male dir zum Beispiel aus, du wanderst auf deinem Weg einmal im Frühjahr, einmal im Sommer, einmal im Herbst und einmal im Winter. Es ist ein und derselbe Weg, aber du wirst sehen, dass er, je nach Jahreszeit, immer anders aussieht. Das Bächlein am Wegesrand ist im Frühjahr mit leuchtenden Blumen umgeben, im Sommer wuchert stattdessen sattes Grün. Im Herbst verändern sich allmählich die Farben in der Natur, und im Winter ist das Bächlein unter einer Eisschicht verborgen. Der Rahmen ist der gleiche, aber trotzdem sieht alles anders aus.
Achtsamkeit heißt auch: Neues in Vertrautem entdecken
In den verschiedenen Jahreszeiten macht es uns die Natur leicht, Neues in Vertrautem zu entdecken. Aber stelle dir vor, du gehst deinen Wanderweg zur gleichen Jahreszeit einmal bei Sonnenschein und einmal im Regen. Plötzlich erscheint alles ganz anders, nicht nur in einem anderen Licht. Wie sieht die saftig grüne Wiese aus, wenn sie nass ist? Wo sind all die Bienen, die beim letzten Mal noch emsig Blütenstaub auf den Wiesenblumen sammelten? Hat sich wegen des Regens der Gesang der Vögel verändert? Vielleicht gehst du deinen Wanderweg aber auch zwei Mal innerhalb einer Woche bei gleichem Wetter. Was siehst du beim zweiten Mal? Hat sich im Vergleich zum letzten Mal etwas verändert? Je vertrauter, je ähnlicher die Rahmenbedingungen sind, desto genauer musst du hinsehen, desto aufmerksamer musst du sein, um Neues wahrzunehmen und zu entdecken. Hast du es gefunden, bist du komplett im Hier und Jetzt.
Stelle dir beispielsweise vor, du gehst zum zweiten Mal an einem großen, mehrere Hundert Jahre alten Baum vorbei, den du bereits von der ersten Wanderung kennst. Möglicherweise wirst du ihm keine große Aufmerksamkeit schenken, denn du hast ihn ja bereits beim ersten Mal bewundert. Versuche nun, dich diesem Baum mit Neugierde und kindlicher Naivität zu nähern! So, als ob du ihn noch nie zuvor gesehen hättest. Statt achtlos an ihm vorbeizugehen, bist du achtsam und betrachtest ihn mit dem oben erwähnten Anfängergeist. Vielleicht entdeckst du nun Dinge an diesem Baum, die du vorher noch nicht wahrgenommen hast: die Struktur seiner Rinde, einen Pilz, der sich auf dem Stamm breitgemacht hat, oder Insekten, die auf dem Stamm nach oben klettern. Vielleicht hörst du das sanfte Rauschen der Blätter in der Baumkrone und beobachtest, wie sich das Sonnenlicht im Blätterdach bricht. All das passiert im Hier und Jetzt. Wie es gestern war und morgen sein wird, ist nicht von Bedeutung. Schon bekommt deine Wanderung auf dem gleichen Weg einen neuen Glanz, weil du einzelne Situationen, einzelne Dinge bewusster wahrnimmst.
So kannst du nicht nur den großen Baum mit ganz neuen Augen sehen, sondern noch viele andere Dinge mehr. Indem du ihnen deine Aufmerksamkeit, deine Neugierde schenkst, nimmst du das Neue im Vertrauten wahr. Aus einer vormals (durch dein Denken entstandenen) langweiligen Wanderung auf dem gleichen Weg wird so eine spannende, neue Wanderung, auf der du übst, Gewohntes aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten und alte Denkweisen zu verändern. Dass das nicht immer gelingt, ist klar. Es ist auch nicht der Anspruch. Aber wenn du es hin und wieder übst, verlässt du eingetretene Denkpfade und kommst aus deiner Komfortzone. Du wirst achtsam statt achtlos. Dann ist es auch kein großes Problem mehr, ein und dieselbe großartige Wanderung noch ein zweites Mal oder sogar mehrmals zu machen. Ich wünsche dir viel Freude beim Entdecken.